Theologische Lektüre: "Antichrist" von Lars von Trier (2024)

Wenige Filme des frühen21. Jahrhunderts haben die Auseinandersetzung um eine grundlegende Deutung derWelt so stimuliert wie Lars von Triers „Antichrist“. Die Leidensgeschichteeines Mannes und einer Frau, die mit dem Tod ihres kleinen Sohnes ringen, ist soradikal wie raffiniert verschlüsselt. Eine theologische Lektüre rückt den Filmentlang der Begriffe „Antichrist“, „Garten Eden“ und „Armageddon“ in einüberraschend neues Licht.

Vor 15 Jahren entstand imSauerland ein Film, in dem der heute sterbende deutsche Wald so etwas wie eineHauptrolle spielt, p*rnodarsteller als Body-Doubles von Charlotte Gainsbourgund Willem Dafoe zum Einsatz kamen, und der einen Titel trägt, der kryptischer (undtheologischer) kaum gedacht werden kann: Antichrist“ (2009) von Lars von Trier.Der für seine tiefgründigen und ästhetisch innovativen Reflexionen über Gnade,Heiligkeit, Weltuntergang und sexuelle Obsessionen bekannte dänische Regisseur präsentiertedarin die „ultimative Kulmination“ (Jan Simons) seines bedeutsamen Gesamtwerkes.

Der Film greift zahlreichezentrale Motive und dramaturgische Konstellationen seiner früheren Filme aufund setzt sie miteinander in Verbindung. So findet sich etwa diePaarkonstellation als Ausgangspunkt für einen Konflikt auch in „Europa“ und „Breaking the Waves“. Das Motiv des Gynozids ist schon inFilmen wie „Idioten“, „Dancer in the Dark“ oder „The Element of Crime“ sowie in dembrutalen Horrorfilm „The House that Jack built“ präsent undzieht sich als roter Faden durch alle Filme von Lars von Trier. Auch dasDilemma „Strafen oder Sterben“ ist bei ihm ein Konflikt, der in abgewandelterForm auch in anderen Filmen eine grundlegende Rolle spielt, etwa in „Dogville“. „Antichrist“ ist also kein Bruch, sonderndie konsequente Fortsetzung von früheren Filmen sowie die Ankündigung dernachfolgenden Werke des inzwischen schwer an Parkinson erkrankten Regisseurs.

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BeimFilmfestival in Cannes löste die Premiere von „Antichrist“ 2009 heftige Diskussionenaus, insbesondere über die Frage nach der Frauenfeindlichkeit des Regisseurs.Eine andere, vielleicht noch profundere Kritik glaubt, dass Lars von Triernichts mehr zu sagen habe und deshalb krude Bilder der Verstümmelung des Selbstund des Anderen loslassen müsse oder dass er seine Depression mit Hilfe diesesFilms zu therapieren versuche. Gleichwohl ist zu vermerken, dass Charlotte Gainsbourg in Cannes für „Antichrist“ als beste Darstellerinausgezeichnet wurde, während die Ökumenische Jury dem Film erstmals in ihrerGeschichte einen „Anti-Preis“ verlieh, was ihr wiederum Zensur-Vorwürfe eintrug.

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Monatespäter gewann der Film den Europäischen Filmpreis für die beste Kamera. ImHerbst 2009 wurde „Antichrist“ mit dem Filmpreis des Nordischen Ratesausgezeichnet und die Dänische Filmakademie kürte ihn zum besten dänischen Filmdes Jahres; sie zeichnete außerdem Regie und Drehbuch, die Kameraführung von Anthony Dod Mantle, sowie Spezialeffekte/Beleuchtung, Schnitt und Ton aus. Einbedeutendes Werk des religiösen Films also, mit starken zeitdiagnostischenElementen, das gerade in seiner Opakheit und seinermetaphysisch-symbolistischen Offenheit nach religionswissenschaftlicher Deutungruft.

EinDrama in vier Kapiteln

„Antichrist“ ist in vierKapitel eingeteilt, „Trauer“, „Schmerz“,„Verzweiflung“ und „Die Drei Bettler“; der Film wird aber auch von einem Prologund einen Epilog gerahmt. Der Plot handelt von einem namenlosen Ehepaar,das seinen kleinen Sohn verliert, weil dieser aus dem Fenster fällt, währendseine Eltern Sex miteinander haben. Der Mann, ein Psychotherapeut, begibt sichmit seiner Frau und dem Ziel, sie von ihrer exzessiven Trauer und ihrenSchuldvorwürfen zu heilen, in eine einsam gelegene Waldhütte namens „Eden“. Der Ort hat eine Vorgeschichteim Leben des Paares und im Verhältnis zwischen Mutter und Sohn und gipfelt ineiner apokalyptischen Situation, einem Beziehungs-Armageddon. Es kommt zugegenseitigen Gewalttaten des Paares inklusive Genitalverstümmelung, bis derMann die Frau in Notwehr tötet.

Hineinverwoben in dieseverstörende, an vielen Stellen mit Horroreffekten unterlegte Handlung sind aufmehreren Ebenen das Motiv der Frau als Hexe, aber auch als perfiderKinderquälerin sowie das Verhältnis zwischen Frau und Natur, das in Lars von TriersPerspektive vor allem von Tod, Bedrohung und Vergänglichkeit geprägt ist.

Nachdem von Trier langeJahre formal den Nimbus des „Dogma 95“-Puristen aufrechterhalten hatte, beginnt„Antichrist“ mit einer Super-Zeitlupe, die auch den ausgesprochen körperlichund p*rnografisch inszenierten Sexualakt der Eltern umfasst. In Schwarz-Weiß erfährtdiese Szene durch ihre dezidierte Künstlichkeit eine große Eindringlichkeit,eine geradezu metaphysische Aufladung. Dieser Eindruck wird dadurch verstärkt,dass außer der Arie „Lascia ch’iopianga“ aus der Oper „Rinaldo“von Georg Friedrich Händel, die überdies im Epilog erklingt, kein anderer Tonzu hören ist. Die dramatische Eingangsszene bleibt also stumm; auch während desrestlichen Films wird keine Musik eingesetzt; stattdessen dominieren die Geräuschedes Waldes wie Blätterrauschen oder Vogelgeschrei. Darüber hinaus sind Töne ausdem Inneren des menschlichen Körpers zu hören.

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Der Film ist demrussischen Filmemacher Andrej Tarkowski und dessen metaphysischemSlow Cinema gewidmet. Als Vorbereitung auf die Dreharbeiten wurde den beidenHauptdarstellern Charlotte Gainsbourg und Willem DafoeTarkowskis Drama „Der Spiegel“ (1975) gezeigt, den Lars von Trierangeblich mehr als dreißig Mal gesehen hat. Darin spielt der Wald – wie auch inTarkowskis „Opfer“ – eine besondere Rolle. Während in „DerSpiegel“ der Wald für die schöne Kindheit des Regisseurs steht, erinnert in „Antichrist“die Hütte an „Der Spiegel“ oder „Opfer“. Auch mit seinen stark subjektivenBildern lehnt sich „Antichrist“ an das Werk von Tarkowski an. Zudem verweist erauf das Inferno in Dante Alighieris „GöttlicherKomödie“, worin der Protagonist ebenfalls durch einen finsteren Waldirrt. Ein weiterer Bezugspunkt sind die Beziehungsdramen von Ingmar Bergman,vor allem „Szenen einer Ehe“, vielleicht auch „Fanny und Alexander“.

Während zunächst dieFigur der Frau und ihre Trauer im Zentrum steht, gerät mit dem Wechsel desFilms in den Wald die Natur in den Blickpunkt. Die feindselige, unwirklicheSeite der Natur wird besonders betont und mit dem Schicksal des Paars inVerbindung gesetzt, etwa durch die Totgeburt eines Rehs oder durch einVogelküken, das aus dem Nest fällt und vom elterlichen Vogel gefressen wird.Die nachts auf die Hütte prasselnden Eicheln und die Worte eines Fuchses –„Chaos regiert!“ – verstärken diesen Eindruck. Die Frau fasst dies zusammen:„Die Natur ist Satans Kirche.“

ZentraleThemen in „Antichrist“

Traditionell ist der WaldOrt deutscher Heimat-Ideologie wie auch des Unheils. Man kann an Grimms Märchendenken, vor allem an „Schneewittchen“ und „Rotkäppchen“, und genau diese Seitebetont Lars von Trier. Im Wald begegnet man dem Unheimlichen, dort ist dasLeben und die Existenz bedroht. Der Wald ist der Ort, an dem Natur ganz zu sichkommt. Er bildet das Gegenteil zur Kulturleistung des Menschen und derZivilisation, die sich dem Wald gegenüber durch Rodung oder das Anlegen einesWegesystems, also durch die Ökonomisierung des Waldes zur Holzproduktion, behauptet.

Man kann „Antichrist“ alsBearbeitung des Verhältnisses oder gar als Kampf zwischen der von dem rationalenTherapeuten verkörperten Kultur und der an der eigenen Rationalisierung gescheitertenMutter als Verkörperung der Natur verstehen.

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Zugleich aber erscheintdie fast promovierte Historikerin auch als von der Natur verschrecktesKulturwesen; die Natur um die Hütte erweckt auch in ihr zunächst Angstzustände.Sie fürchtet das Berühren des Grases; nachts prasseln unaufhörlich Eicheln aufsHüttendach. Von Beginn an wird auch der Mann von der Natur angegriffen: Am Morgensitzen blutsaugende Zecken auf seiner Hand. Ganz zu schweigen von den mitgroßem Aufwand inszenierten drei Bettlern in Tiergestalt. Man begegnet ihnenals einem Reh, das eine Totgeburt hinter sich herschleift, und einem Fuchs, derseine eigenen Gedärme frisst, sowie einer untoten krächzenden Krähe, die denMann in Lebensgefahr bringt.

Lars von Trier wurde von Schauspielerinnenaus früheren Filmen als unmenschlicher und brutaler Regisseur kritisiert. Umsomehr hätte man das in seinem – zumindest was die Explizitheit der Darstellungenangeht – brutalsten Film befürchtet. Doch das Gegenteil ist der Fall; CharlotteGainsbourg hat jüngst sogar noch einmal die Bedeutung von „Antichrist“ für ihrschauspielerisches Œuvre hervorgehoben und überdies in weiterenherausfordernden von-Trier-Filmen wie „Melancholia“ und „Nymphomaniac“mitgewirkt. Willem Dafoe meldete sich bei Lars von Trier persönlich und merkte nachAbschluss der Dreharbeiten an: „Ich glaube, das Dunkle, das Unausgesprocheneist für einen Schauspieler vielversprechender. Es ist das, worüber wir nichtsprechen. Wenn man also die Gelegenheit hat, sich dem in einer spielerisch-kreativenArt und Weise zu nähern, dann reizt mich das.“

Mein spezifischer Zugangzum Film hängt an drei theologischen Begriffen: Antichrist, Garten Eden undArmageddon, die eine säkulare Filmkritik vielleicht nicht mit Lars von Trier inVerbindung bringen würde. Sie sollen im Folgenden als horizonterschließendeInterpretamente für diesen sperrigen Film durchbuchstabiert werden.

Antichrist

Der „Antichrist“ (deutsch auch:Widerchrist, Endchrist) ist eine Figur der Endzeit, der Apokalypse, die alsGegenspieler und Gegenmacht zum guten Erlöser und Weltherrscher Jesus Christus vor dessen Wiederkunft erwartet wird.Der Begriff stammt aus dem Neuen Testament, wird dort vor allem in denJohannesbriefen benutzt und bezeichnet einen Menschen, der „gegen den [vonGott] Gesalbten“ auftritt und falsche Lehren über ihn verbreitet. In denJohannesbriefen steht er nicht für eine bestimmte Person, sondern bezeichnetgewisse Gegner des Christentums. Der Begriff wurde in der Kirchengeschichte aufviele verschiedene Personen und Mächte bezogen und ausgedeutet. Auch die neuzeitlicheeuropäische Kulturphilosophie und Literatur haben sich mit ihm befasst. Wasbedeutet dieser Filmtitel bei Lars von Trier? Die Theologin Theresia Heimerlverweist auf ein Zitat der von Charlotte Gainsbourg gespielten Frau: „Wenn diemenschliche Natur böse ist, dann gilt das auch für … für die Natur von … vonden Frauen? Der weiblichen Natur? Der Natur von allen Schwestern?“

Die These, dass Frau undNatur wesentlich böse seien und also Gegenmächte zu Mann, Kultur und Christus,könnte genauso aus dem berüchtigten „Hexenhammer“, dem Handbuch dereuropäischen Hexenverfolgungen, stammen. Ein Buch, das oft als Vulgärform derHochscholastik begriffen wird, obwohl die Wurzeln christlicher Misogynie viel ältersind und bis zu Aristoteles zurückreichen. In ihrem Buch „Frau und Natur“hat die Kulturwissenschaftlerin Susan Griffin dazu Erhellendeszusammengetragen: „Wie der Mann die Frau und die Natur betrachtet und sie sichzunutze macht.“

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Ob Lars von Trier „denZuschauern und Zuschauerinnen vor allem am Ende des Films die Protagonistin alsvon Grund auf böse Frau förmlich aufdrängt“, ist dennoch fraglich. TheresiaHeimerl stellt immerhin fest, dass die „Frau“ von Beginn an nicht denStereotypen einer Femme fataleentspricht, dem klassischen Topos der bösen Frau in cineastischer Tradition: „Vielmehrbegegnen wir in der ersten Szene einer sprachlosen, auf ihren nackten,begehrenden Körper fokussierten, um nicht zu sagen: ‚reduzierten‘ Frau. DieseBetonung des bloßen Körpers in seiner unvermittelten Fleischlichkeit undGeschlechtlichkeit verunmöglicht bereits zu Anfang jenen Eindruck, der geradedie Femme fatale auszeichnet, nämlich eine Aura von Macht und Souveränität, inwelcher das Ablegen der Kleider ein bewusster Akt der Verführung ist und selbstder Geschlechtsakt (wo er gezeigt wird) eine Inszenierung ist, in welcher die Regiebei der Frau liegt.“

Dieses Bild der körper-und emotionsgeleiteten Weiblichkeit wird in „Antichrist“ konstant verstärkt,allerdings mit einer Zäsur, welche die Wende von der guten zur bösen Fraumarkiert. Bis dahin begegnet man einer durch den Tod ihres Kindes psychisch gebrochenen,hochgradig labilen Frau, deren zeitweise aufblitzende Aggressionen als hilfloseAkte der Trauer und Irrationalität von männlicher Souveränität und Vernunft gedeutetwerden. Lars von Trier inszeniert ein ironisch gebrochenes,aristotelisch-bürgerliches GeschlechterrollenTableau und damit das Gegenbildzur bösen Frau.

Alles sieht also zunächstnach einer Fortsetzung seiner opfertheologischen Filme der „Golden-Heart-Tetralogie“aus. Eine machtlose, von männlicher Vernunft abhängige Frau, die unfähig ist,ihr Leben strategisch zu planen, die ihre Ambitionen zur höheren Bildung längstzurückgestellt hat, eine Mutter mit tiefer Kindesliebe und Angst vor dendestruktiven Seiten der Natur, wird hier von Charlotte Gainsbourg verkörpert.Allein ihr suchtartiger Umgang mit Sexualität (den Lars von Trier in „Nymphomaniac“ dann ganz in den Mittelpunkt stellt)will nicht so recht in das Bild passen.

Die Wende im Bild dieserFrau beginnt mit der Entdeckung der Notizen zu ihrer unvollendeten Dissertationüber frühneuzeitliche Hexenprozesse durch den Mann. In der Folge begegnet man einerFrau, die aktiv zu handeln beginnt und sich nun in vielem als das herausstellt,was man eine „böse Frau“ nennen kann: mit einer aktiven, fordernden, aggressivenSexualität, einem radikalen und in letzter Konsequenz destruktiven Umgang mitdem eigenen Körper, Gewalt gegenüber dem eigenen Kind, einer ambivalentenBeziehung zur Natur und einer Nähe zu deren tödlichen Aspekten sowie einem aggressivenVerhalten gegenüber dem Mann. Hinzu kommt das Wissen der Zuschauer um ihreBildung.

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Was fehlt, ist dieBetonung der ästhetischen Dimension, nämlich der „bösen Frauen“ in vielenFällen zugeschriebenen Eitelkeit. Das erscheint durchaus konsequent, wenn mandie Frau hier als radikale Zuspitzung des Typus der „bösen Frau“ und geradedadurch als durchaus zynische Offenlegung der inneren Logik dieses Stereotypsversteht, als postmodernen Kommentar: Der Zauberspiegel aus „Schneewittchen“,dem die ängstliche Frage nach der eigenen Schönheit und dem Kurswert fremdenBegehrens gilt, ist kein magisches Objekt mehr. Vielmehr ist der als Therapeutzusätzlich mit Macht ausgestattete Ehemann alleiniger Bezugspunkt für dieBewertung des weiblichen Selbst geworden. Nicht mehr wie im Film noir die jungeKonkurrentin oder der Mann einer anderen sind Objekt des Begehrens und Hasses,sondern der eigene Mann und Vater des verstorbenen Kindes. Die sogenannteKernfamilie, die in vielen Filmen der 1980er- und 1990er-Jahre noch alsbedrohter Hort des Guten inszeniert wurde, wird hier zum bevorzugten Ort desweiblichen Bösen.

In diesem Nukleusspätbürgerlicher Idylle gibt es keine Stieftochter mehr wie im Märchen, sondernnur mehr ein eigenes Kind, demgegenüber jedwede Grausamkeit eigentlich eineDenkunmöglichkeit ist. Der exzessive Gewaltakt und die Tötung der Frau durchden Mann wird schließlich als notwendige Rache für den Tod des Kindes erlebbargemacht. Nicht wenige Zuschauer werden zumindest innerlich gemurmelt haben, wasdas Publikum des Film noirs „Verhängnisvolle Affäre“ laut gerufen haben soll: „Killthe bitch.“

GartenEden

Der zweite Begriff istder Name der Hütte im Wald, „Eden“. „Gan Eden“ bedeutet inder hebräischen Bibel „Gartender Wonne“ oder geläufiger: „das Paradies“. Jener Ort also, in dem imFilm die exzessiv thematisierte Heilung stattfinden soll, traditionell einGarten der Lüste, des Heils und der ewigen Freuden. In der Kunstgeschichteunendlich oft dargestellt, im Schlaraffenland und in neuzeitlich-modernen Utopiensäkularisiert und idealisiert. Ein Sehnsuchtsort aller eurasischen religiösen Kulturen.Vom Regisseur wird diese Tradition benannt und vom ersten Moment an dekonstruiert.Der Film zeigt einen Wald, an dem für das Paar vielleicht gute Erinnerungenhängen, deshalb flieht es dorthin. Von Beginn an hält der Film aber vor allemBilder der existentiellen Bedrohung und des Unheimlichen bereit, die sichschließlich zu einem apokalyptischen Furor steigern. Manche haben von Triereine Ironisierung unterstellt. Mir scheint seine Auseinandersetzung mit dem GartenEden aber existentieller. Wie später in „Melancholia“ zeichnet er ein Gegenbild zurchristlichen Heilsgeschichte, die gut beginnt und gut endet. „Antichrist“hingegen endet nicht gut für das Paar und die Frau; nur der Mann humpelt amEnde von einer schweren Verletzung gezeichnet ins Tal. „Antichrist“ ist vorallem eine apokalyptische Unheilsgeschichte. Heil ist bestenfalls im Prolog zu finden,der doch zugleich auch den Beginn allen Übels darstellt.

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Doch von Trierthematisiert mit dem Wald noch ein anderes Menschheitsthema: Natur im Gegensatz zu Zivilisation undKultur; das ist nicht nur eine zum Gemeinplatz gewordene geschlechterstereotypeGegenüberstellung. „Antichrist“ erzeugt im Wald eine raffinierte Synthese ausguter, unschuldiger und böser, korrumpierter Natur, in dem just jene Tiere, diewir als lieb und kuschelig wahrzunehmen gewohnt sind, allen voran das Rehkitzund seine Mutter, als Repräsentanten der vergänglichen und in ihrerVergänglichkeit bedrohlichen Natur fungieren. Dass der Rabe gerne aufHexenbuckeln dargestellt wurde, darf man als Vertrautheit mit diesem Motivperfide nutzenden animalischen Sidekick verstehen.

Der Naturbegriffentfaltet darüber seine ganze Polyvalenz: Ist es die „natura“ derscholastischen Philosophie, von der im Eingangszitat gesprochen wird, oder docheher ein esoterisch-neopaganer Naturbegriff, welcher die Natur zureigenständigen Entität zum para-religiösen Ort des Heils macht? Oder handelt essich um eine augustinisch-gnostische Parabel über das Wesen der Welt nach demSündenfall? Vor allem aber: Ist es die Natur der Frau, böse zu sein und Böseszu tun, sobald sie nicht mehr von männlicher Ratio und Zivilisation geleitet,ja unterdrückt wird?

Theresia Heimerl ist derAnsicht, bei Lars von Trier werde aus der Utopie eine Dystopie, in welcher sichnicht die böse Frau als Lüge des Patriarchats entpuppt, sondern die gute Frauals Legende männlicher Idylle wie feministischer Lehre gleichermaßen. „Antichrist“wurde oft als frauenfeindlicher Film bezeichnet. Diese Kritik greift zu kurz: „Antichrist“ist die vielleicht brutalste und konsequenteste Dekonstruktion des Motivs derbösen Frau im Film.

Armageddon

Kommen wir zum dritten theologischenBegriff: „Armageddon“. Zunächstein geografisch lokalisierbarer Ort, die Ebene bei Megiddo in Israel, wo der inder Johannes-Offenbarung beschriebene Endkampf zwischen Gut und Bösestattfinden soll. Das Gute siegt hier, und das Böse wird vernichtet. Damit kommendie Unruhe und Unklarheit, wer gut ist und wer böse, die die Menschen seitihrer Vertreibung aus dem Paradies umtreiben, zu einem Ende. „Alles wird gut,und wenn es noch nicht gut ist, ist, ist es noch nicht das Ende.“ Gut wird es im„Antichrist“ aber nur für den von Willem Dafoe gespielten Mann; dass er derGute und die Frau das Böse ist, war zu Beginn des Films so nicht erkennbar.

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Metaphysisch im Sinneeines Endkampfes inszeniert Lars von Trier dieses Thema, indem sich die Naturals Ganzes zunächst gegen das Paar verschworen zu haben scheint, sich dann aberetwa in Gestalt der untoten Krähe auf die Seite der Frau schlägt und mit demMann die Rationalität und Zivilisation in den sicheren und qualvollen Tod zutreiben scheint. Dass dieser die Ekelgrenze überschreitende Auseinandersetzungein echter Entscheidungskampf zwischen Gut und Böse ist, wird darin sichtbar,dass er über weite Strecken auch als Rache der Frau für die männliche Unterdrückunggelesen werden kann. Das Ende offenbart dann aber, wer gut und wer böse ist. Dassdem ins rettende Tal hinabsteigenden Mann Horden gesichtsloser Frauen begegnen,die wie magnetisch vom Scheiterhaufen seiner ermordeten Frau angezogen werden,scheint einen metaphysischen Ton anzuschlagen. Diese Szene gibt der Auslöschungder „bösen Frau“, die schon inder Eingangssequenz Zeugung und Schöpfung satanisch in einen Akt des Todesverkehrt hat, eine universale Bedeutung. Sollte hier in einem apokalyptischenEndkampf das Böse in Natur und Frau final und damit das Böse in der Natur undin allen Frauen ausgelöscht worden sein?

Hier ertönt erneut dieHändel-Arie aus Rindalo: „Lass mich weinen über mein grausames Schicksal, undlass mich für Freiheit seufzen. Möge der Kummer brechen, die Fesseln meinerQual, wenn auch nur um des Mitleids willen.“ Die finale Bestrafung der Frauwird damit in einen Schuld-Kontext gestellt. Damit ist der Endkampf zwischenFrau und Mann auch Jüngstes Gericht und ihr Tod entspricht der Bestrafung inder Hölle für ihre Schuld am Tod ihres Kindes.

DerEndkampf von Mann und Frau

Der Film „Antichrist“ gehtdamit zu Ende, eine Geschichte mit eigener Raum-Zeit, überschrieben mit „Trauer,Schmerz und Verzweiflung“. Es ist Lars von Triers Versuch, die eigeneVerzweiflung in einem Endkampf zwischen Mann und Frau, Natur und Kultur zuüberwinden. Aber er hat sie zur Geschichte der Menschheit überhöht. Wie legitimdas ist, darüber darf man und frau streiten. Er hat diesem Kampf aber auch jedeHoffnung ausgetrieben. Der Zahn des Bösen nagt bereits an dem, was die säkulareGesellschaft als Wurzel des Guten identifiziert: dem Geschlechtsakt zweieraufgeklärter Akademiker. Die Psychotherapie des Mannes scheitert mitsamt ihremsäkularen Heilsversprechen am metaphysischen Bösen der Frau. Auch das eineBotschaft des Regisseurs, der die Glaubenssätze einer durchsäkularisiertenGesellschaft unterläuft, dass das Gute von der Frau und das Böse vom Mann ausgeht.Dieser Glauben, für den es historisch viele gute Belege gibt, wird in„Antichrist“ umgekehrt.

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Damit endet ein Film, derzwar Elemente des Horror-, Splatter- und melodramatischen Beziehungskinos à la „Szeneneiner Ehe“ bedient, seine Durchschlagskraft und verstörende Wirkung aber mindestensgenauso aus der Verwendung von Allegorien, dem dauernden Anspielenmetaphysischer Kategorien und biblischen oder fabel- und märchenhaftenBildbeständen bezieht.

As someone deeply immersed in the realm of film analysis, it's evident that Lars von Trier's "Antichrist" stands as a pivotal work, sparking intense debates and discussions. Released in 2009, this film presents a narrative of profound complexity, intertwining themes of grief, pain, despair, and the apocalyptic, all while employing allegorical elements related to theological concepts such as "Antichrist," "Garden of Eden," and "Armageddon."

Lars von Trier, a Danish director renowned for his thought-provoking reflections on grace, holiness, and existential themes, strategically weaves together motifs from his earlier films, creating a cohesive narrative. Notably, the film explores the central theme of the relationship between man and woman, a motif recurring in his previous works like "Europa" and "Breaking the Waves." Additionally, the film delves into the dilemma of "punishment or death," echoing themes from "Dogville."

Despite the initial controversies and debates surrounding the film's premiere at the Cannes Film Festival in 2009, it received recognition and awards, underscoring its significance in cinematic exploration. "Antichrist" was both lauded and criticized for its portrayal of female characters, leading to discussions on women's roles and the director's intentions.

The film is divided into four chapters – "Grief," "Pain," "Despair," and "The Three Beggars" – framed by a prologue and epilogue. The narrative follows an unnamed couple grappling with the death of their son, leading them to a secluded cabin named "Eden." This setting serves as a backdrop for a harrowing exploration of their grief, culminating in a tumultuous Armageddon of their relationship.

Von Trier's cinematic choices, such as the use of super slow-motion and a lack of musical score throughout most of the film, contribute to its distinctive atmosphere. The dedication of the film to Russian filmmaker Andrej Tarkowski and the incorporation of themes from Tarkowski's works, particularly "The Mirror," adds another layer of depth. The film also draws inspiration from Dante Alighieri's "Divine Comedy" and exhibits parallels with the relationship dramas of Ingmar Bergman.

Theological concepts play a significant role in the film's interpretation. "Antichrist" deconstructs traditional notions associated with the Antichrist, Garden of Eden, and Armageddon. The film challenges stereotypes of female characters, especially the portrayal of the woman as a potentially evil force, and reinterprets these concepts in a postmodern light.

The narrative arc of the female protagonist undergoes a transformation from a grieving and vulnerable state to a more assertive and, in some interpretations, a "bad" woman. The film questions traditional depictions of good and evil, presenting a nuanced exploration of the nature of women and their relationship with the natural world.

The Garden of Eden, represented by the cabin named "Eden," is deconstructed from a place of healing and paradise to a setting of existential threat and impending doom. The film explores the dichotomy between nature and civilization, challenging gender stereotypes and presenting a complex synthesis of the natural world.

The concept of Armageddon is metaphorically employed in the film's climax, depicting a symbolic end battle between the male and female protagonists. The resolution, marked by the man descending into a valley amid faceless women drawn to the pyre of his deceased wife, carries metaphysical undertones.

In conclusion, "Antichrist" transcends conventional filmmaking, delving into theological and existential themes with a distinctive cinematic language. Lars von Trier's daring exploration of gender roles, the human condition, and the interplay between nature and culture makes "Antichrist" a provocative and multi-layered cinematic experience.

Theologische Lektüre: "Antichrist" von Lars von Trier (2024)
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Author: Greg Kuvalis

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